Dr. Michael Gutmann verfügt über einen reichen Erfahrungsschatz in der Leichtathletik. Bis 1978 war er aktiver Leistungssportler mit Schwerpunkt Hochsprung, blieb dem Sport aber auch danach treu. Seit 2010 ist er leitender Verbandspsychologe im Deutschen Leichtathletikverband (DLV). Im Interview berichtet er über die Situation der Sportpsychologie innerhalb der Leichtathletik, gibt Einblicke in die Vorbereitung auf die Olympischen Sommerspiele in London, spricht über seine Erfahrungen vor Ort während der Spiele und zeigt Perspektiven und Anforderungen an die Sportpsychologie auf.
Seit der geänderten Fassung der DLV-Verwaltungsordnung 2010 sind die DLV-Verbandspsychologen als wichtiger personeller Bestandteil der DLV-Leistungssportförderung integriert und ist deren Berufung geregelt. Wie war die Situation vorher und welche Veränderungen haben sich daraus für Ihre Arbeit im Verband ergeben?
Auch vor diesen Änderungen wurde bereits erfolgreiche sportpsychologische Betreuungsarbeit geleistet, dies jedoch vor allem auf individueller Ebene und meist ohne eine längerfristige und verlässliche Planung. Durch die genannten Veränderungen ist mehr Verbindlichkeit eingetreten, z.B. gibt es jetzt eine Jahresplanung der Wettkampfeinsätze, die sowohl für den Verband als auch für die beteiligten Psychologen Planungssicherheit bietet. Darüber hinaus ermöglicht die Teilnahme des leitenden Psychologen an den Sitzungen des Bundesausschuss Leistungssport mehr Einblick in die Vorgänge innerhalb des Verbandes und schafft eine engere Einbindung in das Teammanagement. Die dadurch dokumentierte Akzeptanz der Sportpsychologie sowie der verbesserte Informationsfluss zwischen Teammangement, Trainern und Psychologen fördern die Voraussetzungen für eine zunehmende systematische Einbindung in die langfristige Vorbereitung der Athleten z.B. bei Lehrgängen oder Trainingslagern.
Die Sportpsychologie im Leistungssport hat inzwischen einen weit höheren Stellenwert eingenommen, als noch vor wenigen Jahren. Was ist aus Ihrer Sicht der Grund für diese Öffnung?
In vielen Sportarten ist es inzwischen zu einer hohen Leistungsdichte gekommen. Wer im Spitzenbereich etwas erreichen will, muss alle Ressourcen ausschöpfen. Dazu gehört auch der mentale Bereich. Das hat sich inzwischen herumgesprochen und keiner, der seinen Sport mit professionellem Anspruch betreibt, kann mehr ernsthaft daran vorbei. Im Gegenzug hat sich auch die Sportpsychologie entwickelt, um diesem Anspruch gerecht zu werden. Nicht zuletzt durch die Mitwirkung der asp ist es dazu gekommen, dass Sportpsychologen bei Athleten, Trainern und den verantwortlichen Funktionären überzeugt haben und inzwischen mehr und mehr integriert werden. Dies führt vor allem auch zu dem positiven Trend, dass sich die wissenschaftlich fundierte Sportpsychologie gegenüber der bunten Welt anderer Anbieter mentaler Dienstleistungen durchgesetzt hat.
Bei einigen Sportarten ist die Zusammenarbeit mit Sportpsychologen im Leistungssport schon seit vielen Jahren fester Bestandteil – bei anderen Sportarten scheinen noch Widerstände zu bestehen. Woran liegt dieser Unterschied in der Akzeptanz Ihrer Meinung nach und wo in dieser Akzeptanz-Skala stufen Sie die Leichtathletik ein?
Akzeptanz ist ein Prozess, der von einzelnen Personen – Athleten, Trainern und Funktionären – geprägt wird. Wenn zentrale Personen den Prozess aufhalten oder blockieren geht es natürlich langsamer voran. Die Leichtathletik ist mit ihren vielen Disziplinen zwar sehr heterogen, aber inzwischen hat man eigentlich in allen Bereichen erkannt, dass eine sportpsychologische Unterstützung weiterhelfen kann. Der zunehmenden Akzeptanz steht jedoch gegenüber, dass eine systematische und umfassende sportpsychologische Betreuung angesichts der Größe und Heterogenität von Athleten und Trainern im Bereich der Leichtathletik eine große konzeptuelle, organisatorische und finanzielle Herausforderung ist, der wir jedoch mit Optimismus und Engagement entgegensehen.
In einem Interview auf Leichtathletik.de haben Sie als Ziele der DLV-Psychologen für London 2012 benannt, dass Sie Ihren Beitrag dazu leisten wollten, „ein Team auf die Beine zu stellen, das in London mit Top-Leistungen glänzt und dabei mit Teamgeist und Selbstvertrauen Spaß an der Leichtathletik vermittelt.“ Wie viel Zeit hatten Sie im Vorfeld der Olympischen Spiele, um diese Ziele zu erreichen, welche Schritte sind Sie gegangen und wie gut ist es Ihnen rückblickend gelungen?
Die "heiße" Phase der Olympiavorbereitung haben wir Ende 2010 eingeleitet im Rahmen eines zentralen Trainingslagers der kompletten Nationalmannschaft auf Zypern. Dort gab es verschiedene Veranstaltungen, Workshops und Gespräche unter dem Motto "London 2012 - Wir haben das Feuer!" Mit von der Partie waren dabei auch Edgar Itt und David Kadel, die als Motivationsprofis ihren Anteil beigetragen haben. Die Betreuungen wurden in der Zeit nach Zypern je nach Bedarf individuell und in disziplinspezifischen Gruppen fortgeführt. Ihren Abschluss fanden Sie in der unmittelbaren Wettkampfvorbereitungsphase in Kienbaum unmittelbar vor London. Dort gab es neben Gesprächsrunden u.a. zur Vorbereitung auf die Mediensituation in London auch einen Nintendo-Spieleabend, bei dem in Viererteams schon einmal „Olympia“ gespielt werden konnte.
Insgesamt haben wir viel positive Rückmeldung zu unseren Maßnahmen bekommen. Man muss sich allerdings daran gewöhnen, dass man es in der heterogenen Welt leichtathletischer Individualsportler nicht allen Recht machen kann: Es gibt immer auch kritische Stimmen und Unzufriedene.
Sie waren während der olympischen Spiele in London vor Ort. Welche Möglichkeiten hatten Sie in dieser Phase der Betreuung noch, die Athleten zu unterstützen?
Prinzipiell geht unsere Strategie dahin, dass Athleten ihre Wettkämpfe selbständig bestreiten und keinen Psychologen vor Ort brauchen. Dementsprechend gilt für uns das Prinzip der zurückhaltenden Präsenz, d.h. Unterstützung anzubieten, wenn unerwartete Situationen auftreten. Und diese Situationen gibt es immer wieder, z.B. Schlafstörungen, Umgang mit Nervosität oder Angstzustände angesichts der gigantischen und lauten Mensa im Athletendorf. Neben der Perspektive der individuellen Betreuung steht dabei auch das Mannschaftsgefüge im Vordergrund, d.h. es ist dafür Sorge zu tragen, dass individuelle Problemsituationen nicht dazu führen, dass die Stimmung im Team kippt. Eine solche Situation hatten wir im Team der Leichtathleten in London aber überhaupt nicht.
Was waren für Sie ganz besondere Momente während der Tage in London?
Ein besonderer Moment in sportlicher Hinsicht war für mich der Freitagabend mit dem parallelen Ablauf des überragenden Stabhochsprungs der Männer, dem überraschend verlaufenden Hammerwurf der Frauen und den immer spannenden Staffeln. Ein besonderes Erlebnis für mich persönlich war die Teilnahme an der Abschlussfeier im Stadioninnenraum. Die gesamte Dramaturgie und vor allem die Lichteffekte im ganzen Stadion waren so beeindruckend, dass man gar nicht wusste, wo man zuerst hinschauen sollte. Aber eigentlich waren diese Ereignisse nur das i-Tüpfelchen. Die Spiele in London waren nicht nur sehr gut organisiert, sondern wurden auch von ganz London mit großem Enthusiasmus gefeiert. Es war einfach schön, ein Teil dieses Spektakels gewesen zu sein.
Rückblickend auf London 2012 – wie lautet Ihr Fazit aus sportpsychologischer Sicht und gibt es Konsequenzen oder Wünsche, die sich hieraus für Ihre Arbeit als leitender Verbandspsychologe ergeben?
Es war explizit ein Teil meiner Aufgabe, zu beobachten, um Erkenntnisse für die zukünftige Arbeit zu gewinnen. Diese Punkte werden wir gemeinsam auswerten und Schlüsse daraus ziehen. Das sportpsychologische Fazit lautet: Wir sind schon gut vorangekommen, aber es gibt noch ganz viel zu tun. Vor allem geht es darum, Strukturen und Konzepte zu entwickeln und zu etablieren, um noch besser in die Vorbereitung der Athleten eingebunden zu werden und die Voraussetzungen für effektives Wettkampfverhalten zu optimieren.
Abschließend noch eine Frage zum Berufsbild Sportpsychologe im Leistungssport: Was muss man persönlich mitbringen, um hier gute Arbeit zu leisten und welche Empfehlungen können Sie dem sportpsychologischen Nachwuchs für Ihren beruflichen Erfolg mit auf den Weg geben?
Im Leistungssport hat man es mit extremen Menschen zu tun, die einen sehr konsequenten Weg gehen, die einen hohen Einsatz geben und die in der Regel bereits über viel Erfahrung verfügen. Wer hier mit Standard-Lehrbuchkonzepten kommt und meint, zu wissen, wie alles besser geht, der wird diesen Menschen kaum gerecht werden und dementsprechend kaum Akzeptanz finden. Vielmehr geht es darum, sehr genau zuzuhören und den Punkt zu finden, der vielleicht eine kleine Verbesserung bringt. Wenn das gelingt, wird auch das Vertrauen entstehen, das wir brauchen, um unsere Kompetenz einbringen zu können.
Vielen Dank für das Interview!
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Zur Person:
Diplom-Psychologe Dr. Michael Gutmann, geb. 1958, verheiratet, zwei Kinder
Er absolvierte ein Psychologiestudium mit anschließender Promotion und arbeitet als Gesellschafter der factum GmbH sowie als Coach für Business und Sport. Er ist Mitglied der Sportpsychologie-Expertendatenbank und seit 2010 Leitender Psychologe des DLV.
Kontakt:
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