Was in den USA bereits jahrzehntelange Tradition hat, ist in Deutschland noch nahezu unbekannt: Neuropsychologie im Sport. Als Pioniere beschäftigen sich Diplom-Psychologe Gerhard Müller und sein Kollege Dr. Andreas Eidenmüller gemeinsam mit ihrem Team mit dem Thema und bemühen sich um eine stärkere öffentliche Wahrnehmung dieses für den Sport so wichtigen Themas.
Am 22. und 23. Februar veranstalten sie als weiteren Meilenstein in Würzburg ein Internationales Symposium zum Thema „Fortschritte in der Sportneuropsychologie und richtiger Umgang mit Gehirnerschütterungen", zu dem neben Neuropsychologen und Sportmedizinern explizit auch Sportpsychologen eingeladen sind.
Im Gespräch berichtet Gerhard Müller über den aktuellen Stand der Forschung zu leichten Kopfverletzungen im Sport, die Ziele seiner gemeinsamen Arbeit mit Dr. Andreas Eidenmüller, Kooperationsmöglichkeiten mit der Sportpsychologie und das bevorstehende Symposium.
Bild (von links nach rechts): Eva-Maria Müller, Dr. Andreas Eidenmüller, Sylvia Katerna, Gerhard Müller, Verena Stadter
Zunächst eine ganz allgemeine Frage: Was genau tut ein Neuropsychologe eigentlich?
Die Neuropsychologie ist ein Spezialgebiet der klinischen Psychologie, und befasst sich mit allen neurologischen Erkrankungen, bei denen das Gehirn betroffen ist wie Schädel-Hirnverletzungen, Schlaganfall, MS oder Parkinson. Als Bindeglied zwischen Medizin und Psychologie untersuchen Neuropsychologen Gehirnfunktionen wie Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Konzentration oder Denkvorgänge, denn sobald eine Hirnschädigung vorliegt, sind diese beeinträchtigt. In Deutschland gibt es etwa 2000 Neuropsychologen, von denen die meisten in neurologischen Rehabilitationskliniken arbeiten. Der ambulante Bereich ist noch nicht weit verbreitet, hier gehören wir zu den größten und bekanntesten Praxen in Deutschland und betreiben neben der ambulanten Betreuung von Patienten eine von der Fachgesellschaft für Neuropsychologie anerkannte Akademie, in der Psychologen sich nach dem Studium zum „Klinischen Neuropsychologen GNP“ fortbilden können. In der Regel sind Neuropsychologen, wie wir in unserer Praxis, immer auch Psychotherapeuten. Wir beschränken uns eben nur auf Patienten, die Hirnschädigungen haben, weil da die Phänomene ganz andere sind.
Wie kamen Sie in Kontakt mit dem Thema "Auswirkungen von leichten Kopfverletzungen im Sport"?
2007 hatten wir hier in Würzburg im Rahmen einer Sommerakademie zum Thema Psychotherapie mit Schädel-Hirn-Verletzten einen renommierten Professor aus den USA, George P. Prigatano zu Gast. Per Zufall kam das Gespräch auf Sport und er berichtete von der Sportneuropsychologie, von Präventionsmaßnahmen und Schulungen im College-Bereich, die in den USA Standard sind. Das war für uns der Anlass, nachzuforschen, was dort gemacht wird.
Wie ist denn der Stand in den USA?
In Amerika gibt es seit über 25 Jahren große Forschergruppen, die sich damit beschäftigen, wie sich leichte Schädel-Hirnverletzungen, landläufig als Gehirnerschütterungen bezeichnet, auf die Leistungsfähigkeit der Sportler auswirken und welche Spätfolgen sich durch wiederholte leichte traumatische Kopfverletzungen ergeben können. Es gibt zahlreiche Lehrbücher und nahezu alle professionellen Sportmannschaften haben ganz selbstverständlich neben Trainer, Sportmediziner und Sportpsychologen auch einen Sportneuropsychologen im Team. Es gibt sogar in vielen Bundesstaaten Gesetze, die Präventionsmaßnahmen bei College-Sportlern vor dem 18. Lebensjahr verbindlich vorschreiben.
Womit beschäftigt sich die Forschung im Bereich der leichten Kopfverletzungen genau?
Anders als bei schweren Schädel-Hirnverletzungen, die es im Sport natürlich auch gibt, beschäftigt sich der Bereich der milden Varianten, im englischen Mild Traumatic Brain Injury (MTBI) genannt, mit zwei Fragestellungen: Wie lange braucht es nach einer Gehirnerschütterung, bis ein Sportler seine Leistungsfähigkeit zurückerlangt hat und welche Sportler weisen dauerhafte Beeinträchtigungen auf. In der Regel ist ein Sportler nach zwei Wochen wieder fit, ca.10% haben jedoch auch über diese Zeit hinaus Schwierigkeiten, etwa im Bereich der Konzentrationsfähigkeit oder beim Lernvermögen. Diese Sportler gilt es zu identifizieren und zu schützen. Zusätzlich geht es um die Frage, was mit einem Sportler passiert, der in seiner Kariere mehrfach Gehirnerschütterungen hatte. Im American Football kommt es zum Beispiel sehr häufig vor, dass die Spieler 5 oder gar 10 Gehirnerschütterungen in ihrer Karriere haben. Obwohl die Gehirnerschütterungen immer wieder ausheilen, ist die Frage, was kumulativ hängen bleibt.
Berühmtes Beispiel hierfür war in Deutschland der Eishockeyspieler Stefan Ustorf, der seit seiner letzten Gehirnerschütterung so schwerwiegende Einbußen im Konzentrations-und Gedächtnisbereich aufweist, dass er seine Karriere beenden musste. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass er in seiner Karriere viele Gehirnerschütterungen hatte, so dass diese letzte das Fass zum Überlaufen gebracht hat.
Das hört sich an, als ob Sportneuropsychologie bislang hauptsächlich in den USA ein Thema war
Ganz und gar nicht. Zum Beispiel haben IOC und FIFA seit 2001 inzwischen 4 Weltkonferenzen zum Thema „Concussion (Leichte Schädel-Hirn-Verletzungen) in Teamsports“ abgehalten, bislang allerdings ohne deutsche Beteiligung. Bei der letzten Tagung Ende 2012 waren als einzige Deutsche mein Teamkollege Dr. Eidenmüller, ein Sportmediziner aus Neckarsulm und ich anwesend. Weder DFB, noch Eishockeyverbände, noch DOSB waren beteiligt. Auch bei der Fußball-WM 2010 in Südafrika gab es, angeregt durch Prof. Jiri Dvorak, leitender Arzt der FIFA, im Vorfeld eine Tagung, bei der es einen halben Tag nur um das Thema „Concussions“ ging.
Sie sind nun angetreten, das Thema im Deutschen Sport bekannt zu machen?
Das ist unser Ziel. Wir sind zum Beispiel mit dem DOSB in Kontakt und wurden 2011 von Dr. Wolfarth zur Medizinertagung eingeladen, an dem alle leitenden Mediziner der Sportverbände teilnehmen. Hier konnten wir vortragen und ebenso 2012 bei der Physiotherapeutentagung des DOSB. Seitdem ist das Thema wesentlich bekannter geworden. Wir haben inzwischen auch einige Spitzensportler aus der Fußball-Bundesliga untersucht und betreuen eine Handball- und zwei Basketball-Mannschaften. Eine Kooperation mit einem Fußball-Verein der ersten Liga steht unmittelbar bevor. Hier soll im Rahmen einer Diplomarbeit auch die von uns genutzte Methodik evaluiert werden. Dies mit dem Ziel, Standards für die Prävention zu generieren und Kooperationspartner zu gewinnen. Sobald eine Verletzung da ist, ist die Kostenseite inzwischen geregelt, so dass es jetzt darum geht, die Prävention in den Fokus zu nehmen, also Trainer und Betreuerschulung, Mannschaftsschulung und Baseline-Tests vor Beginn und am Ende der Saison.
Welchen Nutzen haben denn die Sportler konkret von der Zusammenarbeit mit Neuropsychologen?
Die Symptome einer Gehirnerschütterung sind sehr vielfältig, werden nicht immer mit der Verletzung in Verbindung gebracht und oft bagatellisiert. Es besteht jedoch eine drei- bis sechsfach erhöhte Verletzungsgefahr, wenn Sportler zu früh wieder antreten. Wir begleiten sie daher beim "Return to play", so dass sie stufenweise und so schnell wie möglich wieder zurückkehren können. Innerhalb von 24 Stunden nach einer Gehirnerschütterung können wir reagieren und in Zusammenarbeit mit Trainern, Sportmedizinern und Physiotherapeuten aktiv werden. Durch Vergleich der vor und nach dem Unfall erstellten Tests können wir verlässliche Angaben machen, ob ein Spieler bereits nach 5 Tagen oder erst nach 3 Wochen zurückkehren kann. Dies nach der Devise: Besser ein Spiel verpassen, als die ganze Saison. Bei nicht vollständig ausgeheilten oder häufigen Gehirnerschütterungen steigt das Risiko der Chronifizierung und in dessen Folge ein massiver Leistungsabfall. Besonders gefährdet sind Eishockeyspieler, Handball-Torwarte, Fußballspieler bei Ellbogen-Checks und Kopfball-Zusammenstößen, aber auch Basketballspieler bei Blocks und Abprallern.
Welche Kooperationsmöglichkeiten sehen Sie für den Bereich der Sportpsychologie?
Wir möchten gerne einen neuen, ergänzenden Aspekt aufzeigen, der für die mentale Betreuung von Sportlern aber auch für den klinischen Bereich interessant sein kann. Es geht um eine Bereicherung des Spektrums aus psychologischer Sicht. Unser Anliegen ist es, Sportpsychologen dafür zu sensibilisieren, dass nach Kopfzusammenstößen kognitive Störungen nicht selten sind und länger Funktionsstörungen auslösen können, als man gemeinhin denkt. Dies ist besonders wichtig für die Kollegen, die mit Leistungsdiagnostik arbeiten, da man nur in der Fortbildung zum Neuropsychologen gezielt lernt, wie sich Kopfverletzungen auf Felder wie Aufmerksamkeit und Konzentration auswirken. Für den Bereich der Prävention und Schulung sehe ich gute Möglichkeiten der Vernetzung. Die Bereiche Diagnostik und Behandlung erfordern in der Regel eine gezielte Ausbildung, abhängig davon, ob die Kollegen aus der klinischen Psychologie kommen. Aber grundsätzlich sind wir nicht weit voneinander entfernt und wünschen uns, Sportpsychologen durch Informationen oder Schulungen in ihrer Arbeit zu unterstützen.
Sind damit Sportpsychologen eine der Zielgruppen des Symposiums im Februar?
Definitiv ja. Neben Neuropsychologen und Sportmedizinern wollen wir gerade auch mit Sportpsychologen in Kontakt kommen. Zusätzlich freuen wir uns über teilnehmende Physiotherapeuten, da diese meist am nahesten am Sportler sind und Sportler ihre Beschwerden wenn überhaupt eher mit ihnen besprechen. Die Tagung ist ausdrücklich interdisziplinär ausgerichtet, so dass man nicht in die Tiefen der Neuropsychologie eintauchen muss.
Was erwartet die Teilnehmer denn konkret?
Hauptredner sind aus den USA Dr. Michael McCrea, ein renommierter Sportneuropsychologe, der die Vorgeschichte vorstellen wird und Chris Nowinski, ehemaliger Footballer, der in Amerika sehr berühmt ist. Nach einem Unfall hat er begonnen, an der Universität Boston zum Thema Gehirnerschütterungen zu forschen und engagiert sich stark im Präventionsbereich.
Zusätzlich wird aus der Schweiz Dr. Nina Feddermann, enge Mitarbeiterin von FIFA-Chefmediziner Prof. Dvorak über die Ergebnisse und Empfehlungen des letzten Weltkongresses zum Thema sprechen. Erfahrungen aus der Zusammenarbeit mit Eishockeyspielern tragen zwei Sportpsychologinnen aus Österreich bei, die dort im Red Bull Training und Education Center arbeiten. Das gesamte Programm kann über diesen Link abgerufen werden (http://pdf.koenigundmueller.de/kurs/FB130222C.pdf)
Viel Erfolg für das Symposium am 22. und 23. Februar in Würzburg und vielen Dank für das Gespräch!
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Kontaktdaten:
Dr. Andreas Max Eidenmüller, Dipl.-Psych.
andreas.eidenmueller@neuropsychologie.de
Gerhard Müller, Dipl.-Psych.
gerhard.mueller@neuropsychologie.de
Zentrum für Klinische Neuropsychologie
Semmelstraße 36 / 38 - 97070 Würzburg
Tel.: 0931/415100 - Fax. 0931/415101
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