Den Leipziger Sportpsychologie Kreis gibt es schon seit 2003 - eine Zeit, in der das Thema Sportpsychologie längst nicht so präsent war wie heute. War das einer der Gründe für den Zusammenschluß?
Die Grundidee bestand darin, dass die moderne angewandte Psychologie mehr zu bieten hat, als Leistungseinschränkungen zu diagnostizieren oder Menschen aus Phasen eingeschränkter Leistungsfähigkeit in das Arbeitsleben zurückzuführen. Die moderne angewandte Psychologie kann nachgewiesenermaßen etwas dazu beitragen, Menschen an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit heranzuführen, diese ausloten zu helfen und verhindern, dass ein Überschreiten dieser Grenzen zu Leistungsverlusten führt. Es war für uns an der Zeit, ganz im Sinne der Tradition der Stadt Leipzig ein Forum zu schaffen, in dem im Anwendungsfeld Sport die wirklich praxisrelevanten Themen Eingang finden.
Dabei haben wir es uns zur Aufgabe gemacht, unsere individuellen blinden Flecken dadurch zu kompensieren, dass wir die jeweiligen Anwendungsfelder aus möglichst vielen unterschiedlichen sportwissenschaftlichen und sportpsychologischen Perspektiven beleuchten wollten. Die Zauberworte hießen und heißen: interdisziplinär und schulenübergreifend. Zudem wollen wir nicht in unserem eigenen Saft verkrusten, sondern aktuelle Trends, Forschungsansätze und –ergebnisse der Sportwissenschaften und Sportpsychologie für die Alltagspraxis erschließen und uns dazu -wie auch zu sportpolitischen Fragestellungen - öffentlich positionieren. Und schließlich war uns wichtig, uns neben sportpsychologischen und sportwissenschaftlichen Erkenntnissen auch das Wissen aus angrenzenden Bereichen wie etwa der Psychotherapie, vor allem der Verhaltenstherapie und der Systemischen Therapie sowie deren Anwendung in den Bereichen des leistungsoptimierenden Coachings für Einzelpersonen oder Gruppen/Teams nutzbar zu machen.
Wie kam es zur Gründung und wie hat sich der Leipziger Sportpsychologie Kreis bis heute entwickelt und verändert?
Die Gründungsidee war einerseits inspiriert durch die positiven Erfahrungen der Gründungsmitglieder mit interdisziplinärer Zusammenarbeit und andererseits durch die besondere Historie der Stadt Leipzig. Das Gründungstreffen fand dabei am Leipziger Markt in unmittelbarer Nachbarschaft des Ortes statt, an dem sich schon einmal Leipziger Psychologen und an Psychologie interessierte Ärzte zu ihren interdisziplinär-"konspirativen" Versammlungen unter der harmlos anmutenden Bezeichnung „Leipziger Nervenkränzchen“ trafen. Namentlich waren dies Paul Flechsig, Adolff von Strümpell und Julius Cohnheim, die 1880 im Restaurant Baarmans am Markt eine interdisziplinär denkende, psychologische Arbeitsgruppe gründeten. Und auch Wilhelm Wundt soll sich in diesem Arbeitskreis engagiert haben.
Für unseren eigenen Namen und unser Anliegen schien uns "Leipziger Bewegungskränzchen" dann aber aus vielerlei Gründen nicht so ganz passend zu sein, so dass wir bei der doch eher neutraleren Bezeichnung „Leipziger Sportpsychologie Kreis“ blieben.
Die basale Gründungsidee bestand - wie bereits ausgeführt - zunächst darin, das Wissen nicht nur aus den Kernbereichen "Sportpsychologie" und "Sportwissenschaften" für die Alltagspraxis nutzbar zu machen, sondern auch das Wissen aus angrenzenden Bereichen.
Aus welchen Personen besteht der Leipziger Sportpsychologie Kreis?
Ein erster konkreter Schritt bestand dann darin, die bestehenden Kontakte zwischen den universitären Einrichtungen der Fakultät "Sportpsychologie & Sportpädagogik" an der Martin-Luther Universität in Halle mit Oliver Stoll und Andreas Lau sowie dem "Institut für Sportpsychologie und Sportpädagogik" an der Universität Leipzig mit Dorothee Alfermann und Sabine Würth zu vertiefen. Darüber hinaus wurden Kollegen angesprochen, die aus den Bereichen Verhaltenstherapie, Systemische Therapie und Coaching solche Kompetenzen mit einbringen konnten, die auch für den Leistungssport ergänzend und sinnvoll erschienen, sei es auf der Ebene der Einzel- oder der Teambetreuung (Bettina Wilms, Sebastian Bernert, H.-Ulrich Wilms) . Zu diesem zunächst sieben Personen umfassenden Gründungskreis wurden dann weitere Personen angesprochen, die uns bekannt waren und in der Region sportpsychologisch arbeiteten, oder diese wurden durch unsere Veranstaltungen auf uns aufmerksam. Und schließlich steht dieser Kreis auch den Studierenden und Abgängern des jetzt exisierende Masterstudiengang "Angewandte Sportpsychologie" an der Universität Halle offen sowie allen Personen, die in der Region praktisch mit Leistungssportlern zusammenarbeiten.
Wie können wir uns Ihre Arbeit konkret vorstellen?
Konkret treffen sich die Mitglieder des LSPK einmal monatlich. Neben einer kollegialen Beratung hinsichtlich der Anwendung und Umsetzung leistungsoptimierender Methoden aus dem jeweiligen Arbeitsalltag wählen wir uns Themen, zu denen wir praktische Anwendungsbeispiele oder Übungen vermitteln, darstellen und auch praktisch einüben.
Darüber hinaus planen wir einmal jährlich praxisrelevante Workshops, zu denen wir renommierte Sportpsychologen (bisher u.a. Günter Amesberger, Hans Eberspächer, , Hanspeter Gubelmann, Andreas Wilhelm, Heiko Ziemainz), Sportler (u.a. Romy Beer, Sara Meier, Pavlo Rozenberg, David Schröder) oder Trainer (u.a. Henrik Dettmann, Frank Engel, Thomas Matheja, Ralf Minge, Rene Müller, Maik Nowak, Wolfgang Rentschler) einladen, um über ihre praktische Arbeit zu berichten. Und wir diskutieren natürlich aktuelle, für den Sport relevante politische Themen, um zu evaluieren, ob und in welchem Ausmass wir uns dazu positionieren.
Wie stellt sich der Leipziger Sportpsychologie Kreis auf aktuelle Themen ein? Welches Thema ist gerade präsent und sollte aus Ihrer Sicht stärker beachtet werden?
Die Themen "psychische Erkrankung","Burn-Out" und "Suizidalität" sind gerade besonders markante, aktuelle Themen, die auch dauerhafter Beachtung bedürfen. Aber sie sind nicht oder nur in wenigen Facetten sportspezifisch, sondern in allen Gesellschaftbereichen relevant, in denen Menschen einer starken Belastung ausgesetzt sind und gleichzeitig geringe Entlastungs-/Erholungsmöglichkeiten haben oder sich nehmen. Hier kann der Sport aber eine Vorreiterfunktion einnehmen, um der "Ressource Mensch" mehr Beachtung zu schenken.
Diskussionswürdig im Sinne von Hypothesenentwicklung sind aber auch Ereignisse wie das „Versagen“ ganzer Mannschaften in Einzelsportarten wie der Leichtathletik, dem Bahnradfahren oder im Schwimmen bei Jahreshöhepunkten sowie die Einflussnahme äußerer, sportfremder Instanzen wie der Medien auf die Wettkampfvorbereitung bzw. den Wettkampfablauf . Auch die Leistungsverluste deutscher Sportler im internationalen Vergleich in ehemaligen „Parade“-Sportarten seit der politischen Wende stimulieren zur Entwicklung von Optimierungshypothesen aus sportwissenschaftlicher und sportpsychologischer Perspektive.
Vor nicht langer Zeit wurde die Initiative "mental gestärkt" ins Leben gerufen. In manchen Bereichen überschneiden sich Ihre Anliegen. Werden Sie miteinander kooperieren? Braucht es immer erst prominente oder aufsehnerregende Fälle, bevor flächendeckende Wirkung erzielt werden kann?
Grundsätzlich halten wir Öffentlichkeitsarbeit und Kooperation für eine sinnvolle und notwendige Angelegenheit. Im Einzelfall ist es jedoch für uns auch vor dem Hintergrund unserer begrenzten zeitlichen Ressourcen notwendig abzuwägen, ob eine Kooperation mit neu gegründeten Initiativen oder mit bestehenden, etablierten Bündnissen wie z.B. dem Nationalen Suizid-Präventionsprogramm (NasPro) erfolgversprechender erscheint.
Leider ist es in vielen Bereichen so, dass öffentliche Aufmerksamkeit und mediales Interesse erst erregt werden, wenn prominente Personen betroffen sind. Und auch dann verflacht das "Strohfeuer-Interesse" schnell wieder, so es nicht durch durch Folgeschlagzeilen anderer Prominenter weiter aufrechterhalten wird. Daher ist unsere erklärte Politik, die aus der Arbeit der NasPro gewonnenen Empfehlungen für die Berichterstattung in den Medien umzusetzen, um Nachahmereffekte zu minimieren und eine suizidpräventive Berichterstattung zu fördern.
Hierzu zählen z.B. die proaktive Aufklärung über Hintergründe von Suizidgefährdung und Möglichkeiten der Hilfe, wie auch die Information von Multiplikatoren über Warnsignale und Risikofaktoren, bis hin zu regionalen und überregionalen Hilfsangeboten.
In diesem Zusammenhang bedeutsam erscheint es uns auch gerade in diesem Bereich, die Schwerpunkte bei der Vernetzung zu sehen. D.h. einerseits die „Psych…“-Begriffe zu entstigmatisieren, neben Sportpsychologen auch die potenziellen Multiplikatoren, also Trainern, Physiotherapeuten und anderen dem Leistungssportler nahestehende Personen für Risikokonstellationen, die jeden Menschen betreffen können, zu sensibilisieren. Andererseits scheint es aber gleichermaßen notwendig, bei den Mitarbeitern des Gesundheitsversorgungssystems für die Besonderheiten und Notwendigkeiten des Sportsystems Akzeptanz zu schaffen, was u.a. aufsuchendes Arbeiten gemessen an den Bedürfnissen des Sportlers, ggf. auch am Wochenende beinhalten könnte. Und schließlich sollten informierte und engagierte Personen auf beiden Seiten des Systems miteinander in Kontakt gebracht werden, damit der Sportler im Krisenfall auf ein System trifft, das ihn in einer hilfreichen Navigation unterstützt. Solche unterstützenden Netzwerke zu entwickeln, aufrechtzuerhalten und bekannt zu machen, scheint uns für die nächsten Jahre die vorrangige unterstützenswerte Aufgabe zu sein, an der wir uns gerne beteiligen.