Die DGPPN hat ein Fachreferat "Sportpsychiatrie- und psychotherapie“ gegründet. Ziel ist, über das Ausmaß der seelischen Belastungen und Erkrankungen im Leistungssport aufzuklären, im Sportbereich tätige Psychiater und Psychotherapeuten besser zu qualifizieren und gemeinsame Weiterbildungsbemühungen mit Sportmedizinern zu etablieren. Der Kölner Psychiater, Psychotherapeut und Psychoanalytiker Valentin Z. Markser war der behandelnde Arzt von Robert Enke und spricht im Interview über seine Bemühungen und Hoffnungen, Prävention und Behandlung von seelischen Störungen im Leistungssport zu verbessern.
Ist Leistungssport ein spezifischer Risikofaktor für psychische Störungen?
V.M.: Zunächst möchte ich betonen, dass Sportler in der Regel sehr gesund sind und dass es in unserer Arbeit nicht darum geht, den Sport zu psychiatrisieren. Ich selbst habe dem Sport viele lebenswichtige Erfahrungen zu verdanken. Aber Leistungssportler sind nicht nur starken körperlichen, sondern auch massiven spezifischen seelischen Belastungen ausgesetzt. Und obwohl es, verglichen mit dem großen zunehmenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Interesse relativ wenige wissenschaftliche Untersuchungen über die Prävalenz von seelischen Störungen im Leistungssport gibt, kann man nach Auswertung der vorliegenden Arbeiten feststellen: Die noch immer weitverbreitete Selektionshypothese, nach der es im Leistungssport nur mental starke Sportler gibt und entsprechend keine seelische Störungen geben darf, kann nicht länger aufrechterhalten werden.
Wie häufig sind psychische Störungen im Leistungssport? Sind Leistungssportler anfälliger für psychische Erkrankungen?
V.M.: Die seelischen Störungen im Leistungssport sind ähnlich verbreitet wie in der Gesamtbevölkerung, sie erfahren oft sportspezifische Ausprägungen und manche Erkrankungen kommen in bestimmten Sportarten viel häufiger vor. Am häufigsten werden Angsterkrankungen, Depressionen, Abhängigkeitserkrankungen und Essstörungen beschrieben. In bestimmten Disziplinen haben Leistungssportler ein bis zu elf mal höheres Risiko an einer Essstörung zu erkranken, in manchen weniger breit angelegten Studien wird das Risiko auch deutlich höher eingeschätzt. Viele Studien belegen auch, dass das Risiko für seelische Störungen steigt, je früher man mit dem Sport beginnt. Deshalb sollten unsere Bemühungen in der Zukunft vermehrt der Arbeit mit den jungen Sportlern, deren Eltern und Trainern gelten.
Welche Faktoren können psychische Erkrankungen im Leistungssport auslösen?
V.M.: Neben den erwähnten alltäglichen und zum Leistungssport gehörenden Belastungen sind es häufig die Verletzungen, verletzungsbedingten Unterbrechungen, Karriereenden, aber auch private Belastungen der Sportler, die seelische Krisen auslösen können. Dazu bringt jeder Sportler eine individuelle Vulnerabilität für die seelischen Belastungen mit, die oft einer individuellen sportpsychiatrischen und -psychotherapeutischen Betreuung bedarf. Jeder Sportler und jede Sportlerin geht mit den Belastungen anders um. Außerdem wird meist vergessen, dass nicht nur Niederlagen, sondern auch Erfolge starke Belastungen darstellen und seelische Krisen nach sich ziehen können. Starkes öffentliches Interesse, Verlust der Privatsphäre, große Geldsummen sind gerade für junge Sportler eine massive Verwöhnung und Idealisierung, auf die sie nicht vorbereitet sind.
Welche Maßnahmen können flächendeckend helfen, psychische Gesundheit im Leistungssport zu fördern? Muss hier nicht die Zusammenarbeit von Psychologen als „Vorwarnsystem“ und Psychiater intensiviert werden?
V.M.: Man kann eine Menge auf diesem Gebiet tun. Zunächst geht es um die Aufklärung über das Ausmaß der seelischen Belastungen und Erkrankungen im Leistungssport. Eine bislang geschlossene und anhaltende Verleugnung macht die Vorsorge, Früherkennung und angemessene Behandlung fast unmöglich.
Des Weiteren brauchen wir eine bessere Qualifikation der im Sportbereich tätigen Psychiater und Psychotherapeuten. Aufgrund der dort herrschenden Besonderheiten in der Diagnostik und Behandlung, sowie wegen der oft sportspezifischen Ausprägung der seelischen Störungen ist die Überweisung an einen allgemein ausgebildeten Psychiater und Psychotherapeuten nur die zweitbeste Wahl. Wir haben im Rahmen des Referates zum ersten Mal für September dieses Jahres ein Weiterbildungsangebot mit Qualitätsnachweis geplant.
Und schließlich brauchen wir mehr gemeinsame Weiterbildungsbemühungen. Wir planen bereits mit den Sportmedizinern erste gemeinsame Veranstaltungen. Dasselbe kann ich mir auch mit den Sportpsychologen, Physiotherapeuten und in der Trainerausbildung vorstellen.
Konnte der öffentlich stark ins Bewusstsein gerückte Fall Robert Enke etwas für eine Sensibilisierung des Themas gegenüber der Bevölkerung aber auch der Athleten, Trainer und das betreuende Team von Ärzten und Psychologen bewirken?
V.M.: Die Veränderungen in wichtigen institutionalisierten gesellschaftlichen Bereichen brauchen Zeit und vor allem anhaltende wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit dem Thema. Auf diesem Gebiet hat sich einiges getan in den letzten anderthalb Jahren. Wir haben im Rahmen der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde ein Referat für Sportpsychiatrie- und psychotherapie gegründet und 2010 zum ersten Mal in Deutschland ein Symposium über die seelischen Belastungen und Erkrankungen im Leistungssport in Berlin durchgeführt.
Wie arbeitet ihr Referat und welche Erfahrungen mit dem Thema psychische Erkrankungen im Leistungssport konnten sie seit der Einführung sammeln? Wie weit ist das Netzwerk inzwischen aufgebaut?
V.M.: In den Gesprächen mit der Deutschen Gesellschaft für Sportmedizin haben wir gemeinsame Jahrestagungen und Weiterbildungen vereinbart. In dem Projekt der Sporthochschule Köln „Mental Gestärkt“ bemühen wir uns gemeinsam mit den sportpsychologischen Kollegen um eine Verbesserung der Prävention und Behandlung der seelischen Störungen im Leistungssport.
Auf Initiative des DFB wurde die Robert-Enke-Stiftung gegründet, die viele Aktivitäten entwickelt hat und die sowohl unser Referat als auch die Initiative der Sporthochschule unterstützt.
Meine Hoffnung ist, dass aus diesen Bemühungen sehr bald Empfehlungen und praktische Umsetzungen im Bereich der Trainerausbildung, Aufklärung im Jugendbereich und gesamtmedizinischen Untersuchungen im Mannschaftssport und vor allem in olympischen Sportarten resultieren.
Eine starke Säule ist der Bereich der Forschung: Gibt es bereits erste Erkenntnisse – Wie ist der Forschungsstand?
V.M.: Die Forschung ist ein Gebiet, welches durch die lange Zeit der falsch geglaubten Selektionshypothese am meisten gelitten hat. Wir brauchen dringend breit angelegte Prävalenzstudien, epidemiologische Untersuchungen und wissenschaftliche Arbeiten zur Früherkennungsverfahren in diesem Bereich. Aus unserem Kreis werden derzeit Untersuchungen über die Früherkennung des Übertrainingssyndroms im Breitensport und über die Verbesserung der diagnostischen Kriterien bei Essstörungen im Leistungssport durchgeführt. Die Kollegen des Referates, die an den Universitätskliniken tätig sind, wollen eine Arbeitsgruppe bilden, um die Bemühungen zu intensivieren. Ich würde mir in der Zukunft auch mehr wissenschaftliche Arbeiten gemeinsam mit den Sportmedizinern und Sportpsychologen wünschen, weil die Übergänge fließend sind und die Gesundheit nicht teilbar ist.