Eines der meistdiskutierten Themen bei jedem Fußball-Turnier: Schiedsrichterentscheidungen.
Zum Start der EM 2012 sprechen Prof. Dr. Henning Plessner, Prof. Dr. Daniel Memmert und Prof. Dr. Ralf Brand aus sportpsychologischer Sicht über aktuelle Forschungsergebnissen in Bezug auf Schiedsrichterverhalten, Möglichkeiten der Vorbereitung auf ihre Einsätze in den kommenden Spitzenspielen und geben Einschätzungen zum bevorstehenden EM-Turnier.
Prof. Plessner, gibt es einen Unterschied zwischen einem "normalen" Meisterschaftsspiel und einem Turnier wie einer EM? Wird der Druck der EM die Schiedsrichter in ihrer Leistung beeinflussen?
Prof. Dr. Henning Plessner: Wahrscheinlich hält sich das ziemlich die Waage. Zwar dürfte die gesamte mediale Aufmerksamkeit bei einer EM noch höher sein, dafür finden aber die meisten Spiele auf "neutralem" Grund statt, also mit keiner echten Heim- vs. Auswärtsteam Konstellation. Die Schiedsrichter unterliegen einerseits einem zusätzlichen internen Wettbewerb (wer darf auch noch in den Finalspielen pfeiffen?), dafür sind es aber die besten Schiedsrichter Europas und sie werden in einem Trainingslager noch mal besonders auf dieses Turnier vorbereitet. Unterm Strich dürfte der EM-Druck also keinen zusätzlichen Einfluss auf die Leistung der Schiedsrichter nehmen.
Können wir bei der EM mit vielen Verwarnungen rechnen, Prof. Memmert? Was weiß man aus wissenschaftlicher bzw. sportpsychologischer Sicht über die Gabe von gelben Karten im Fußball?
Prof. Dr. Daniel Memmert: Im Mittel werden ungefähr 4 gelbe Karten pro Spiel gegeben. Dies wird bei der EM im Schnitt nicht wesentlich anderes sein. Schiris zücken gegen die Auswärtsmannschaft statistisch aber mehr gelbe Karten. Dies könnte ein kleiner Vorteil für die beiden gastgebenden Mannschaften Polen und Ukraine sein, da gelbe Karten mit dem Spielergebnis korrelieren. Anderes als man vielleicht glauben mag, sorgt eine frühe gelbe Karte nicht dafür, dass es im Verlauf des Spiels weniger gelbe Karten gibt. Sogar das Gegenteil ist der Fall. Es gibt später umso mehr gelbe Karten im Spiel. Das liegt daran, dass sich der Schiedsrichter mit einer frühen gelben Karte selbst ein Maßstab setzt, er kalibriert sich quasi für das Spiel. Er muss danach alle Fouls genauso bewerten, wie das, welches zur ersten Karte geführt hat. Wartet er lieber ab, bewahrt er sich mehr Freiheitsgrade, d.h. er kann immer wieder aufs Neue entscheiden und einschätzen, ob er eine gelbe Karte geben möchte, oder nicht.
Prof. Brand, sollten die Schiedsrichter ähnlich wie die Sportler psychologisch auf ein solches Ereignis vorbereitet werden? Wenn nein, werden sie dann nicht ein wenig allein gelassen?
Prof. Dr. Ralf Brand: Genauso wie für Sportler gilt auch für Schiedsrichter: Nicht jeder Spitzensportler – und auch Spitzenschiedsrichter sollten als solche betrachtet werden – braucht einen Sportpsychologen, um sein Leistungsoptimum zu erreichen. Und das ist auch gut so. Sportpsychologisches Coaching oder Beratung "wirkt" dann am besten, wenn die Initiative vom Ratsuchenden ergriffen wird. Genau so wurde es von der UEFA während vergangener Turniere auch arrangiert. Es würde mich sehr wundern, wenn nicht auch für die EM in Polen und der Ukraine entsprechende Angebote vorgesehen wären.
Kennen Sie eine solche Betreuung? Wie sollte sie idealtypisch aussehen, eher langfristig oder hilft auch eine kurzfristige Intervention?
Prof. Dr. Ralf Brand: Selbstverständlich kenne ich solche Angebote. Mit unserem Team hier an der Universität Potsdam betreuen wir aktuell und bereits seit einiger Zeit zwei deutsche Top-Schiedsrichterkader aus zwei Sportarten. Aus diesen Erfahrungen heraus können wir sagen, dass die Zusammenarbeit meistens langfristig über ganze Saisonverläufe angelegt ist. Es geht dabei fast ausschließlich um Potenzialentwicklung im Sinne einer rein präventiven Unterstützung. Fälle, in denen irgendwelche Formen von psychologischer Krisenintervention angezeigt waren, blieben bisher extrem selten. Die meisten Schiedsrichter im Top-Bereich sind ausgesprochen stabile Persönlichkeiten und echte Topleister! Wie wir seit der vergangenen Fußballsaison alle wissen, kann auch unter Schiedsrichtern einmal Schlimmes passieren. Ich weiß jedoch, dass einige deutsche Spitzenverbände aus diesem Zwischenfall inzwischen die richtigen Lehren gezogen haben und da mittlerweile mit Bedacht agiert wird.
Welche Eigenschaften, mit der sportpsychologischen Brille betrachtet, zeichnen denn einen sehr guten Schiedsrichter aus?
Prof. Dr. Henning Plessner: Für die wichtigsten spezifischen Schiedsrichtereigenschaften halte ich aus psychologischer Perspektive bei der Regelanwendung die Entscheidungskompetenz (z.B. hohe Antizipationsgabe und Urteilsgenauigkeit, sowie die Berücksichtigung der Angemessenheit von Entscheidungen) und bei der Spielleitung die Kommunikative Kompetenz (z.B. der sichere Umgang mit Spielern und Trainern und das deeskalierende Krisenmanagement). Daneben sind mentale Stärke, Selbstregulation und Stressbewältigung natürlich auch für Schiedsrichter wichtige Voraussetzungen, um Topleistungen zu erbringen.
Von welchen Faktoren können die Schiedsrichter beeinflusst werden?
Prof. Dr. Daniel Memmert: Prof. Unkelbach und ich konnten in eigenen Studien zeigen, dass man vor allem durch Zuschauerlärm den Schiedsrichter beeinflussen kann. Wir haben 20 Schiedsrichtern des Deutschen Fußball-Bundes per Video 56 Foul-Szenen präsentiert, von denen die Hälfte in der Realität zu einer gelben Karten geführt hatte, mit lauter und weniger lauter Zuschauergeräuschkulisse. Jeder Schiedsrichter wurde aufgefordert, seine Entscheidung, wie im realen Spiel, unmittelbar zu treffen. Unser Ergebnis war, dass Schiedsrichter bei ansteigendem Lärmpegel mit einer zehn Mal höheren Wahrscheinlichkeit eine Gelbe Karte zeigen, als in der identischen Situation ohne Lärm. Die Vermutung liegt nahe, dass Schiedsrichter unbewusst den Lärm des Publikums als Hinweis für die Schwere eines Fouls nutzen. Zuschauerlärm beeinflusst also über die Schiedsrichterentscheidungen das Spiel. Möglicherweise also wieder ein Pluspunkt für die Heimmannschaften Polen und Ukraine.
Gibt es Trainingsmethoden, mit denen Schiedsrichter ihre Entscheidungsfähigkeit, z.B. Foul oder kein Foul, verbessern können?
Prof. Dr. Henning Plessner: Dazu zählen bisher vor allem die regelmäßige Spielbeobachtung und die Reflektion des eigenen Verhaltens in kritischen Entscheidungssituationen (deliberate practice). In Ergänzung zu diesen etablierten Verfahren wurde von uns mit Unterstützung des BISp und des DFB ein spezifisches (video-basiertes) Entscheidungstraining für Foul-Situationen entwickelt, das erste Praxistests erfolgreich bestanden hat. Kernstücke dieses Trainings sind der Erhalt wesentlicher Bestimmungspunkte der echten Entscheidungssituation in der Simulation (z.B. des Zeitdrucks) und das unmittelbare Feedback. Unserer Ansicht nach ist das Potential zur Verbesserung von Entscheidungen durch entsprechende Simulationstrainings in diesem Bereich aber noch lange nicht ausgeschöpft.
Was beinhaltet denn aus psychologischer Sicht ein Rüstzeug, das den Schiedsrichtern an die Hand gegeben werden könnte?
Prof. Dr. Ralf Brand: Schiedsrichter können dabei unterstützt werden, einen guten inneren Rhythmus zwischen der zweifellos hohen Anspannung, die rund um ein Spiel entsteht, und den in aller Regel mehrtägigen Pausen zwischen den Spieleinsätzen zu finden. Häufig geht es auch um die Vermittlung von Tools, die Schiedsrichter während des Spiels einsetzen können, z.B. wenn konfliktreiche Situationen innerlich möglichst schnell "abgehakt" werden müssen, um die Konzentration wieder voll auf das laufende Spiel richten zu können. "Dauerbrenner" sind zweifellos Fragen zur Selbstpräsentation und Kommunikation auf dem Platz, sowie der unmittelbar mit der Schiedsrichterrolle verknüpfte Perfektionsdruck, dem sich viele Schiedsrichter ausgesetzt fühlen. Maßgeblich für unsere Interventionen war und ist dabei immer der Grundsatz, dass wir die bei einem Spitzenschiedsrichter schon vorhandenen Stärken stärken wollen. Genauso wie bei Spitzensportlern, gibt es auch in der Betreuung von Spitzenschiedsrichtern keine einfachen "Kochrezepte", wie geholfen werden kann.
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Prof. Dr. Ralf Brand leitet die Professur für Sportpsychologie an der Universität Potsdam. Schon seit seiner Dissertation "Schiedsrichter und Stress" (2002) richteten sich Forschungsinteressen immer wieder auf die Unparteiischen im Sport. Er leitet schiedsrichterbezogene Projekte u.a. für den Deutschen Fußballbund und die BEKO Basketball Bundesliga.
Prof. Dr. Daniel Memmert ist Leiter des Instituts für Kognitions- und Sportspielforschung an der Deutschen Sporthochschule Köln. Er untersucht zusammen mit Prof. Unkelbach (Universität zu Köln) Urteilsprozesse bei Schiedsrichtern und zusammen mit Dr. Wühr (Universität Dortmund) kognitive Prozesse bei Abseitsentscheidungen.
Prof. Dr. Henning Plessner leitet den Arbeitsbereich Sportpsychologie am Institut für Sport und Sportwissenschaft der Universität Heidelberg. Mit Prof. Dr. Ralf Brand (Universität Potsdam) und Dr. Geoffrey Schweizer (Universität Heidelberg) arbeitet er an der Entwicklung von Trainings zur Entscheidungsoptimierung von Schiedsrichtern im Fußball und Basketball.